Von Harald Gaubatz
Mannheim, 29.12.2020
Als ich acht war, begann ich mit dem Fußballspielen. Deutschland war gerade zum zweiten Mal Weltmeister geworden und mein Vorbild war Berti Vogts, auch Terrier genannt. Ich war ein guter Verteidiger, das passte also.
Vier Jahre später war die TSG Rheinau zu Gast bei uns in Seckenheim. Damals bekam ich eine Ahnung davon, was Fußballspielen bedeutet. Mein Gegenspieler war ein für seine 12 Jahre schmächtiger Junge, den alle Mauri riefen. Er machte Dinge mit dem Ball, von denen ich nicht mal zu träumen wagte.
Maurizio Gaudino, so sein voller Name, erzielte zwei Treffer selbst und erzwang ein Eigentor von mir. Wir unterlagen mit 2:4 und ich bekam in den folgenden Jahren immer wieder gezeigt, was möglich ist im Umgang mit der Lederkugel. Aber es kam noch besser.
Staunend sahen wir, wie bei der WM in Spanien der Stern von Diego Armando Maradona aufging. Zumindest für die Europäer. In unserer kleinen Welt wechselte Gaudino zur B-Jugend des Bundesligisten SV Waldhof. Ich schloss mich dem kleineren Lokalrivalen VfR Mannheim an.
Es kam die A-Jugend und Jugendnationalspieler Achim Keller, ein schneller, torgefährlicher Spieler. Eine echte Verstärkung für uns. Keller stieg drei Jahre später mit dem KSC unter Winni Schäfer in die Bundesliga auf. Gegen den SV Waldhof traf er auf Jürgen Kohler und machte keinen Stich.
Gaudino erzielte gegen mich nach drei Minuten das 1:0. Danach glänzte er mit einer Flanke per Hacke aus dem Lauf, die süditalienische Verwandtschaft auf der Tribüne des altehrwürdigen Rhein-Neckar-Stadions klatschte begeistert Applaus. Im Mannheimer Morgen war tags darauf zu lesen, Jugend-Nationalspieler Gaudino konnte „von Gaubert nie ausgeschaltet werden“. Zum Glück schrieb der nachlässige Mitarbeiter meinen Namen falsch. Sonst hätte ich mir in der Schule noch mehr blöde Sprüche anhören müssen.
Waldhof wurde nordbadischer Meister und zog in die Endrunde um die Deutsche ein. Für uns als Sechsten war die Spielzeit beendet. Den endgültigen Saisonabschluss bildete dann der Ilvesheimer Insel-Cup. Diesmal gingen wir gegen Waldhof in Führung und verteidigten lange ein 1:1. Mitte der zweiten Halbzeit erhielt ich für ein grobes Foul eine Zeitstrafe. Gaudino – wer sonst – nutzte die numerische Überlegenheit zum Siegtreffer. Der SVW gewann den Cup im Endspiel gegen Feyenoord Rotterdam, wir wurden Siebter.
Es war das letzte Mal, dass ich Fußball spielte. Danach habe ich – gefühlt – nur noch gekickt. Und den Guten zugeschaut.
So wie zwei Jahre später. Kohler und Gaudino waren längst Leistungsträger des SV Waldhof in der Bundesliga. Ich war Funker im Fernmeldebataillon 970 in der Mannheimer Ludwig-Frank-Kaserne, die es heute nicht mehr gibt. Wir vom Bauzug hatten Wachwochenende und einen Fernseher vor die Baracke gestellt. In Mexiko City lief im Aztekenstadion vor 114.600 Zuschauern das WM-Endspiel, Deutschland hatte gerade zum 2:2 ausgeglichen.
Drei Minuten später der perfekte Pass von Maradona. Briegel jagte Burruchaga mit heruntergelassenen Stutzen übers halbe Spielfeld hinterher. Umsonst, das Spiel war verloren. Diego wurde zu D10S, und irgendwie fühlte es sich gerecht an, dass der kleine Argentinier nun der Größte war.
1989 war ich beim VfL Neckarau in der damals viertklassigen Verbandsliga gelandet. Dort traf ich Achim Keller wieder, eine schwere Knieverletzung beendete nach vier Bundesliga-Spielen den Traum vom Profidasein. Bei mir riss im Herbst das Kreuzband. Ich fing an, bei der Rhein-Neckar-Zeitung zu jobben. Und schaute wieder Fernsehen. Nämlich, wie Gaudino in den Endspielen des UEFA-Cups brillierte. Mauri brachte den VfB Stuttgart im Hinspiel in Neapel sogar in Führung. Nur: Maradona war noch besser und führte die Italiener zum Sieg.
Im Sommer darauf saßen wir in Ilvesheim bei Ridingers im Garten, natürlich wieder vor der Glotze. Nach abenteuerlichen Fahrten zum Viertel- und Halbfinale des deutschen Teams in Mailand und Turin gab es beim Endspiel die entspannte Variante. Kohler verteidigte eisenhart, Brehme verwandelte eiskalt. Deutschland holte den dritten Titel – und Maradona weinte. Ich freute mich und war traurig zugleich.
Nochmal vier Jahre später war alles anders. Maradona glänzte in den USA eine Vorrunde lang, wurde dann aber des Dopings und Drogenmissbrauchs überführt. „Abgehoben“ titelte ich in einem harten Kommentar für die Rhein-Neckar-Zeitung. Zu hart. Denn angebracht war eine solche Generalabrechnung nicht. Diego schenkte meiner Generation die unglaublichsten Momente der Fußballgeschichte. Einen Besseren gab´s nie mehr.
Im Mai nach der Jahrtausendwende durfte ich ihn dann im Auftrag des Mannheimer Morgen endlich live erleben. 43 Minuten hielt er durch beim Abschiedsspiel für Lothar Matthäus, Gegner in beiden WM-Finals. 43 Minuten, bei denen die 47.000 Zuschauer bei jeder Ballberührung des von seinen Eskapaden gezeichneten Genies tobten. 43 Minuten, in denen Bayerns Brasilianer Paulo Sergio vor stolz zu platzen schien, dass er mit Maradona im selben Team antreten durfte.
Maurizio Gaudino ging im kleinen Kreis. Ihn konnte man sogar nochmal in Mannheim bewundern. Als es dem SV Waldhof am schlechtesten ging, als nach dem Lizenzentzug von 2003 keine Mannschaft für die Oberligasaison zusammenzukommen schien, da sprang Mauri ein und half seinem alten Klub, Spieler für den Neustart zu begeistern. Die Waldhöfer konnten antreten und spielten mit einer jungen Truppe eine großartige Runde.
Ein paar Wochen vor dem nicht vorauszusehenden Comeback hatte ich mich in einer Brühler Pizzeria mit ihm verabredet, für einen kleinen Beitrag in der Rhein-Neckar-Zeitung. Ich traf einen ruhigen Familienvater, der dem Gegenspieler aus Jugendzeiten, den er nicht mehr kannte, geduldig und freundlich für ein längeres Gespräch zur Verfügung stand.
Auf dem Platz war Maradona der Größte.
Das Spiel des Lebens hat Mauri besser bewältigt. Diego hat vergangenen November endgültig verloren.
Bericht des Mannheimer Morgen vom 23.01.1984.